Vergossene Milch
von Chico Buarque
Eulália ist hundert Jahre alt und liegt in einem - wie er findet - armseligen Spital in Rio de Janeiro. Während er auf Genesung oder Tod wartet, schwelgt er in Erinnerungen an sein Leben und erzählt dem Leser oder einer Schwester oder seiner Tochter - das alles ist nicht so wichtig - von seinen Erlebnissen. Sein zuweilen getrübter Verstand lässt die Zeiten durcheinanderwirbeln, Vergangenes wird von einem Augenblick auf den Anderen gegenwärtig, Tote stehen auf, um im nächsten Moment wieder in ihren Grüften zu verschwinden. Eulália’s Erzählung oszilliert zwischen den Zeiten, überlagert Geschichten und zeichnet dabei ein farbiges und plastisches Bild der Geschichte und Entwicklung Brasiliens. Das Buch erzeugt eine Vorstellung von den Veränderungen der letzten Jahrzehnte in Rio de Janeiro. Gleichzeitig erhält der Leser einen Einblick in das alte, noch kolonial geprägte Brasilien, als die Sklaven auf den Fazendas arbeiteten und die Nachkommen der Portugiesen noch nicht verarmt waren.
Besonders fasziniert mich, wie es Chico Buarque gelungen ist, aus der ICH-Perspektive eines alten Menschen am Ende seines Lebens zu erzählen: Erstmals konnte ich mir vorstellen, wie es sich anfühlen muss, wenn Zeiten sich auflösen und Vergangenheit und Gegenwart keine klaren Kategorien mehr sind. Dieses freie Schweben im Universum der Erinnerungen ermöglicht es, sich mal hier mal dort auf einer Erinnerung niederzulassen, wie ein Vogel auf einen Baum. Der Geist kann sich umschauen, die neue Perspektive kosten und danach weiterziehen.
Ich habe Eulalia auf seinem Ausschweifungen durch Zeit und Welt sehr gerne und mit grossem Vergnügen begleitet.
Chico Buarque, Vergossene Milch, Roman S. Fischer, 2013
ISBN 978-3-10-046331-9