Zuckerleben von Pyotr Magnus Nedov

An den Leben der Protagonisten in Nedovs Roman ist nichts Süsses. Im Gegenteil: sie versuchen, auf ihre je eigenen Weisen in europäischen Kirsenherden zu überleben. Oder auch nicht. Denn die Geschichte beginnt damit, dass der aus Moldawien stammende Tolyan Andreewitsch in Italien beinahe ein junges Paar überfährt, welches sich zwecks Selbstmord auf die Fahrbahn gelegt hat. Lebensmüde ist das Paar deswegen geworden, weil es seine Arbeit in der Zuckerfabrik von Termoli verloren hatte. Und um Zucker geht es auch im Leben von Tolyan Andreewitsch. Dank 40 Tonnen Zucker, an die Tolyan nicht ganz legal im Jahr 1991 in der zerböselnden Sowjetrepublik Moldawien gekommen war, konnte er sich seinen Traum erfüllen und nach Italien ausreisen. Tolyan nimmt die beiden Beinahe-Selbstmörder mit und erzählt ihnen aus seinem Leben, während sie in einem maroden, offenbar auch zerbröselnden Berlusconi-Italien von 2011 unterwegs sind und die schrägsten Geschichten erleben. In grotesken Filmbildern (der Autor hat auch Filmwissenschaft studiert), die an eine Mischung zwischen Kusturica und Fellini erinnern, vergleicht er in einer temporeichen und eindringlichen Sprache die beiden zwanzig Jahre auseinanderliegenden Krisenherde. Wobei es ihm in erster Linie um die Menschen darin geht, die sich mit Zerfall, Armut und ihren trotzdem vorhandenen Träumen auseinandersetzen müssen. Die einzigen (noch) tragenden Strukturen sind in beiden Ländern die Mafia, in Moldawien verkörpert durch das Imperium eines goldschmuckbehangenen und von Leibwächtern umsorgten Zigeunerbarons, der in einer Mischung aus Robin Hood und kaltblütigem Mafiaboss der Anführer einer Schwarzmarktgang ist, deren Mitglieder die Noblen der moldawischen Gesellschaft sind und die die darniederliegende Wirtschaft der Sowjetunion ersetzt hat. In Italien verbrennt derweil eine italienische, lesbische Hotelbesitzerin einen weiteren Selbstmörder (auch er ein Opfer der Krise), welcher sich in einem ihrer Zimmer erhängt hatte, nachts auf einer Beige Euro-Paletten, da keiner ihn bestatten will und sowieso alle italienischen Funktionäre an der Berlusconi-Demonstration in Rom beschäftigt sind. Im Moldawien von 1991 lernt man so liebenswürdige Figuren wie den Ewig Hungrigen Historiker Roma Flocosu oder den sprechenden Fuchs Felix Edmundowitsch kennen. Eine zahnlose Roma-Oma bügelt frisch gedruckte Dollar- und DM-Blüten während im Fernseher ein charismatischer TV-Guru die Massen verzückt. Bei aller Skurrilität schildert Nedov seine Figuren mit Wärme und Zuneigung und seine Analyse der Krisen von damals und heute ist messerscharf.

Ich habe das Buch mit grosser Begeisterung gelesen, ein Buch, das schon beinahe wie ein Film daher kommt, bunt, laut, schrill und glasklar. Die Figuren, die in diesem Krisen-Grusel-Kabinett auftreten, sind so plastisch und treffend beschrieben, dass man sie zu kennen glaubt. Und so ganz nebenbei habe ich Einblick erhalten in ein Land Moldawien, das mir so unbekannt gewesen war, dass ich erst Wikipedia konsultieren musste, um sicher zu sein, dass es sich nicht um ein Phantasieland handelt, und um herauszufinden, dass die Republik Moldau durchaus einen - wenn auch nicht riesengrossen - Platz in der südosteuropäischen Geografie hat.

 

Zuckerleben

Pyotr Magnus Nedov

Dumont, 2013

ISBN 978-3-8321-9702-5